Geschmähter Anand „überrascht“ sich selbst
Tiger von Madras“ erkämpft WM-Revanche gegen Carlsen

Von Hartmut Metz

Selten hat man Viswanathan Anand so feixend, strahlend und gestikulierend nach einer Partie gesehen. Nach seinem Remis gegen Sergej Karjakin war der entthronte Weltmeister wie aufgedreht: Bereits eine Runde vor Ende des WM-Kandidatenturniers stand der Inder als Sieger fest und erhält Gelegenheit zur Revanche gegen den Norweger Magnus Carlsen. „Ich leugne nicht, dass dieses Ergebnis zu den angenehmsten Überraschungen meiner Karriere zählt“, gestand der Weltranglistenachte nach langer Durststrecke.
Den sechsten Frühling im sibirischen Chanty-Mansijsk hatten ihm selbst seine Fans kaum mehr zugetraut. Bei einer Umfrage gaben nur zwei Prozent dem zahnlosen „Tiger von Madras“ eine Chance in dem achtköpfigen Feld. Ja, mancher schmähte den Ausnahmespieler nach der kläglichen Vorstellung gegen Carlsen und unkte, er solle seinen Platz im Kandidatenturnier besser einem der Jungstars, Fabiano Caruana (Italien) oder Hikaru Nakamura (USA), überlassen. Just die beiden überholt Anand nach seiner Glanzvorstellung wieder in der Weltrangliste. Als einziger blieb er mit drei Siegen sowie elf Remis ungeschlagen und deklassierte mit 8,5:5,5 Punkten die Verfolger.
Rang zwei sicherte sich der in der Rückrunde auftrumpfende 24-jährige Karjakin. Der Russe, der einst mit zwölf Jahren jüngster Großmeister aller Zeiten wurde, kann als einziger ebenfalls eine positive Bilanz mit 7,5:6,5 Zählern vorweisen. Die Stimmung des drittplatzierten Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik (7:7) „hellte sich ein bisschen auf“, weil der Russe in Runde 13 seinen Erzfeind, Schlusslicht Wesselin Topalow (Bulgarien/6:8), schlug. Noch schlimmer erging es dem anderen Topfavoriten, Lewon Aronjan. Der Weltranglistenzweite zog in der Schlussrunde nach 94 Zügen gegen Karjakin den Kürzeren und fiel auf den vorletzten Platz hinter den Russen Dimitri Andreikin und den Aseri Schachrijar Mamedjarow (beide 7) und den punktgleichen Russen Peter Swidler (beide 6,5) zurück. Der in Berlin lebende Armenier stolperte damit einmal mehr auf dem Weg ins WM-Finale.
Anand fand das extrem ausgeglichene Feld hinter ihm „ziemlich merkwürdig“. Wurde einer „niedergestreckt, kam er nicht mehr hoch“. Allein dem „Tiger von Madras“ blieb ein Blattschuss erspart. Carlsen zeigte sich vor allem vom Auftaktsieg über Aronjan beeindruckt. „Man sieht es nicht oft, dass der Weltranglistenzweite technisch so überspielt wird“, pries der Weltmeister seinen Vorgänger. Der 23-Jährige wusste aber nicht einzuordnen, ob Anand in Chanty-Mansijsk besser als bei der WM gegen ihn Ende 2013 spielte. Sein Gegner sei manchmal „pragmatisch, manchmal zu pragmatisch“, spielte der Norweger auf Runde zwölf an, als der Inder gegen Andreikin das Risiko scheute und eine glatte Gewinnstellung remisierte – unvorstellbar für Carlsen, der während des Kandidatenturniers Kumpels in Stavanger mit zum Aufstieg aus der zweiten (!) norwegischen Liga verhalf.
Für Anand ist es das sechste WM-Duell seit 1995, als er in New York Garri Kasparow unterlag. Nur Viktor Kortschnoi erspielte sich 1981 mit 50 Jahren in noch höherem Alter eines gegen Anatoli Karpow. Der aus Russland geflüchtete Putin-Gegner Kasparow, der vor kurzem einen kroatischen Pass bekam und nun Präsident des Schach-Weltverbandes FIDE werden möchte, sieht seinen einstigen Rivalen nicht völlig chancenlos. „Anand wird sicher Außenseiter gegen Carlsen sein“, twitterte der 51-Jährige und machte ihm auch etwas Hoffnung, „aber die Schach-Geschichte zeigte schon oft, dass Revanchekämpfe ihre eigenen Gesetze haben und selten so verlaufen wie das erste Match.“ Der wieder bissigere „Tiger von Madras“ dürfte Ende des Jahres nicht noch einmal wie das Kaninchen vor der Schlange wirken.