Tiger von Madras“ beweist zu spät Löwenmut

Erstmals nervöser Magnus Carlsen entthront Inder Anand als Schach-Weltmeister durch 6,5:3,5-Sieg / „Carlsenmania“ rund um den Globus
Von Hartmut Metz
Mit beiden Händen in der Hosentasche verfolgt Magnus Carlsen stoisch neben dem Brett stehend die letzten Regularien, die der Schiedsrichter vollzieht. Nachdem der Referee ihm gratulierte, schlendert der Norweger zufrieden aus dem Glaskasten. „Der Wettkampf war hart, aber es fühlt sich gut an“, kommentierte der Weltranglistenerste seinen WM-Sieg acht Tage vor seinem 23. Geburtstag am 30. November und schob nach, „ich bin sehr glücklich.“ Der „Mozart des Schachs“ machte mit Titelverteidiger Viswanathan Anand kurzen Prozess und deklassierte den Inder in seiner Heimatstadt Chennai mit 6,5:3,5.

Der „Tiger von Madras“ bewies erst zum Schluss Löwenmut. 65 Züge lang beharkte Anand trotz der schwarzen Steine den Favoriten. Als alles Material bis auf die beiden Könige abgeholzt war, streckte der 43-Jährige seine Hand zum Zeichen des Friedensschlusses aus. Carlsen griff danach und war damit um mehr als 1,1 Millionen Euro reicher und 16. Weltmeister der Schach-Historie seit 1886. Konsterniert stellte der entthronte Champion fest: „Die Partie heute war ein Spiegelbild des gesamten Duells. Ich versuchte zu spielen - und patzte. Tut mir leid“, entschuldigte sich der Weltranglistenachte bei seinen Fans für die Pleite. Als erst zweitem Weltmeister nach Emanuel Lasker, der 1921 José Raúl Capablanca unterlag, gelang dem Inder kein einziger Sieg. Carlsen zeigte sich dennoch generös und pries seinen Vorgänger als „einen der größten Spieler der Geschichte. Es war eine Ehre, gegen ihn anzutreten“. Das „Ende einer Ära“ hatte ein alter Weggefährte Anands, der frühere britische Vizeweltmeister Nigel Short, schon tags zuvor via Twitter verkündet.
Der Denksport bekommt mit dem 22-jährigen Kurzzeit-Model der Modemarke G-Star RAW ungewohnten Glamour-Faktor. Schach ist plötzlich cool: Eine durch Fußball, Tennis oder Klettern austrainierte Ikone steht im Mittelpunkt statt aufgedunsener Nerds mit dicker Nickelbrille, wie das Klischee gerne verbreitete. Während sich Männer wundern, was so apart an dem großen Charakterkopfsein soll, schwärmen Damen jeglichen Alters von dem am Brett so gelangweilt wirkenden Jüngling mit Schlafzimmerblick. Das „Time Magazin“ hatte ihn schon vor der WM zu einem der 100 attraktivsten Männer auf dem Planeten gekürt.
In Carlsens Heimatland Norwegen heißt es plötzlich lieber Brett vor dem Kopf statt zwei Bretter unter den Füßen: „Carlsen ist eine Klasse für sich“, zeigte sich Ole Einar Björndalen der Boulevardzeitung „VG“ gegenüber beeindruckt. Der Weltklasse-Biathlet hing wie viele seiner Landsleute und weltweit täglich bis zu 200 Millionen Fans plötzlich am Smartphone oder am Computer. Die WM-Webseite konnte gestern zeitweilig den Andrang nicht mehr bewältigen. „Die WM hat wohl viele Leute interessiert, die sonst kein Schach spielen“, freut sich Carlsen und hofft auf einen „positiven Effekt weltweit“. Schach avancierte in Norwegen gar zum TV-Quotenknüller: Die Marktanteile von 40 Prozent im Staatssender NRK bei mehrstündigen Übertragungen dürften weltweit einmalig bleiben. Die „Carlsenmania“ geht in Oslo sogar so weit, dass der Sport-Dachverband NIF nun Schach aufnehmen will – bis vor kurzem erschienen den Funktionären derlei Gedankenspiele bezüglich des Denksports absurd, berichtete der Sportinformations-Dienst (sid).
Das mit knapp zwei Millionen Euro dotierte WM-Match verlief letztlich einseitig. In den ersten vier Partien hielt der auf Weltranglistenplatz acht zurückgefallene Anand gut mit. In den Eröffnungen war der Weltmeister, der seit 2007 auf dem Thron saß, sogar leicht überlegen. Doch der „Tiger von Madras“ erwies sich danach als zu zahmes Kätzchen. „Das Hauptproblem von Anand war, dass er riesige Angst vor Carlsen zeigte. In der dritten Runde besaß er mit Schwarz schönen Vorteil – doch anstatt solch eine Chance zu nutzen, remisierte er“, analysiert sein Baden-Badener Bundesligakamerad  Arkadij Naiditsch das Duell. Als der Herausforderer dann mit zwei Siegen mit 4:2 in Führung ging, ließ Anand nach Ansicht des deutschen Spitzenspielers „zwei leblose Remis-Partien folgen, anstatt im Sinne der Titelverteidigung aggressiv zu Werke zu gehen“.
Immerhin gewann der Inder in den zwei letzten Duellen wieder etwas den Respekt der enttäuschten Fans zurück. Der sonst so kaltblütige Carlsen wirkte ungewohnt nervös in dem Endspiel mit je einem Springer und sechs Bauern, bevor ein Remis die über maximal zwölf Partien angesetzte WM vorzeitig beendete.
Wer dürfte am ehesten in den nächsten Jahren an Carlsens Thron sägen? Fabiano Caruana (21) könnte Schach in ein Land bringen, das bisher vor allem für Fußball stand: Italien. Oder Sergej Karjakin holt den Titel nach Russland zurück - immerhin hält der gebürtige Ukrainer einen Rekord, den ihm Carlsen nicht mehr nehmen kann: Mit zwölf Jahren und sieben Monaten war der elf Monate ältere Karjakin der jüngste Großmeister aller Zeiten - Carlsen wurde das „erst“ mit 13 Jahren und drei Monaten. Einst schien die Legende Bobby Fischer (1943-2008) mit fünfzehneinhalb Jahren einen Rekord für die Ewigkeit aufgestellt zu haben. In seine Fußstapfen als amerikanischer Weltmeister möchte sicher auch der großspurige Hikaru Nakamura (25) treten. Zu den älteren Anwärtern zählt der Weltranglistenzweite Lewon Aronjan (31). Doch der bescheidene, in Berlin lebende Armenier versprüht so wenig Glamour wie der hagere Caruana und der japanischstämmige Nakamura. Am besten wäre es daher für Schach, Carlsen dominiert das nächste Jahrzehnt auf den 64 Feldern.