Nur die Kuckucksuhren überleben die Baden-Badener Tradition nicht

Die „reizende Stadt im Lebkuchenhaus-Stil“ hat in der Schach-Historie einen besonderen Platz: Legendäre Turniere von 1870 und 1925

Von Hartmut Metz

Für Georg Meier geht derzeit ein „Traum in Erfüllung“. Der 25-jährige Trierer ist einer von sechs Teilnehmern beim Weltklasse-Schachturnier in Baden-Baden. Damit wandelt der deutsche Mannschafts-Europameister auf den Spuren seiner großen Idole: Als Kind begeisterte sich der Großmeister für viele aufregende Partien, die bei den Turnieren 1870 und 1925 in der Kurstadt gespielt wurden!

Die Wettbewerbe vor 143 und 88 Jahren sind bis heute legendär. Kein Schach-Lexikon, egal ob deutsch- oder englischsprachig, kommt ohne Abhandlung über die beiden Klassiker aus, ja die „Chess Encyclopedia“ preist den Ort in der Einleitung als „a charming gingerbread-like city in Germany“, eine „reizende deutsche Stadt im Lebkuchenhaus-Stil“ an. Selbst ganze Turnierbücher gibt es darüber, etwa ein 382 Seiten starkes aus den USA, das Jimmy Adams 1991 über die Veranstaltung von 1925 verfasste.

Während sich heute nur ein paar Zuschauer im LA8 verlieren und die Fans das Geschehen zu Abertausenden im Internet verfolgen, dienten die großen Turniere bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts der Unterhaltung der Gäste. Jeder bedeutende Kurort, der etwas auf sich hielt, bat die Denkstrategen ans Brett. Das englische Seebad Hastings wahrte die Tradition seit dem legendären Wettbewerb anno 1895 Jahr für Jahr. Nur das erste Schachturnier überhaupt, 1851 in London, und Baden-Baden 1870 nehmen einen noch höheren Rang in der Historie des 19. Jahrhunderts ein.

Das belgische Ostende, Wiesbaden, Bad Kissingen, Bad Nauheim, Bad Oeynhausen, San Sebastian, Marienbad, Plymouth, Wien, Venedig oder Monte Carlo – wo Bäder und Casinos lockten, waren die Schachspieler zum Zeitvertreib der oberen Zehntausend gerne gesehen. Nicht zu vergessen: In Baden-Badens Partnerstadt Karlsbad fanden ebenso bedeutende Anlässe auf den 64 Feldern statt, besonders berühmt ist der von 1911.

Turgenjew fungiert als Vizedirektor

Beim ersten großen deutschen Turnier im Juli 1870 feierte Adolf Anderssen seinen letzten großen Erfolg. Der 52-jährige Breslauer blieb mit elf Zählern einen halben Punkt vor Wilhelm Steinitz, der sich vier Jahre zuvor nach seinem Match-Sieg über ihn selbst zum ersten Weltmeister ausgerufen hatte. Bis dahin galt Anderssen als der Beste, weil er in London 1851 Platz eins belegt hatte – und vor allem brillante Partien geschaffen hatte, die noch heute Namen tragen wie „Die Unsterbliche“ oder „Die Immergrüne“. Mit diesen begeistert das Kombinationsgenie seitdem Generationen, Georg Meier inklusive.

Als Vizedirektor des Turniers fungierte der Schriftsteller und leidenschaftliche Schachspieler Iwan Turgenjew. Der Wettbewerb schuf auch die Grundlagen für das heutige Reglement: Bei einem Remis mussten die Akteure nicht nochmals gegeneinander antreten, sondern erhielten einen halben Zähler gutgeschrieben. Zudem herrschte erstmals mit einer Stunde für 20 Züge eine strenge Zeitkontrolle – dass die mit Kuckucksuhren gemessen wurde, setzte sich allerdings zum Leidwesen der Schwarzwälder Uhrenindustrie nicht durch ... Der Ausbruch des Krieges zwischen Deutschland und Frankreich beeinträchtigte das Turnier trotz der Grenznähe nur wenig. Adolf Stern musste abreisen und gab alle Partien kampflos ab, Samuel Rosenthal verlor deren zwei.

1925 trumpfte Alexander Aljechin vom 15. April bis 14. Mai auf. Der spätere Weltmeister deklassierte mit 16 Punkten aus 20 Runden Koryphäen wie Akiba Rubinstein (14,5), Fritz Sämisch (13,5) und Jefim Bogoljubow (13). Bis heute in Erinnerung gebliebene Vordenker wie Aaron Nimzowitsch, Richard Reti und Siegbert Tarrasch, der das erste Turnierbuch verfasste, landeten abgeschlagen im Mittelfeld – nach den drei sind noch heute Eröffnungsvarianten benannt! Aljechin klagte darüber, dass es keinen Schönheitspreis gab. Dem später für Frankreich spielenden Russen gelang gegen Reti die schönste Partie seiner Karriere.

Die Tradition der großen Turniere in Baden-Baden wollte Wolfgang Grenke schon immer fortsetzen. „Das ist meine Idee“, sagt der Leasing-Guru. Schon als kleiner Selbstständiger hatte der Amateurspieler, der Anfang der 80er Jahre zu den stärksten im Bezirk Mittelbaden zählte, bei der saarländischen Firma Chessorg für die Kurstadt geworben – mit Erfolg, fortan organisierte Reinhold Hoffmann einige Großmeister-Turniere und stark besetzte Open.

Vizeweltmeister Viktor Kortschnoi musste 1981 den Co-Siegern Zoltan Ribli und Tony Miles den im Kurhaus ausgestellten und ausgelobten Mercedes überlassen. Der Ungar kaufte dem Briten die Hälfte der Nobelkarosse, die im Osten wie Gold gehandelt wurde, kurzentschlossen ab. Um einen 7er BMW für mehr als 70000 Mark ging es 1992, als Joachim Heiermann mit der Bäder- und Kurverwaltung rund um den Globus für Aufsehen sorgte: Weltmeister Garri Kasparow trat im Simultan gegen die deutsche Nationalmannschaft an. Der Russe gewann 3:1 und brauste am 19. Januar mit der Luxuskarosse davon. Viele weitere hochkarätige Events rund um das königliche Spiel folgten bis heute.

Mittlerweile lenkt Grenke selbst die Geschicke. Der Sponsor baute die OSG Baden-Baden auf, die seit sieben Jahren bei Damen wie Herren von Titel zu Titel in den Bundesligen eilt. Mit dem Wettbewerb, der bis Sonntag im LA8 läuft, hat der 62-Jährige auch jetzt die Tradition der Großmeister-Turniere wiederbelebt – und künftig sollen diese jährlich mit Weltmeister Viswanathan Anand & Co. stattfinden. „Es sieht gut aus“, lässt Unternehmer Grenke wenig Zweifel daran, dass er die besondere Historie des Schachspiels in Baden-Baden fortschreiben will.